Wie kann man sich selbst helfen, wenn man den Nachbarn auf der anderen Straßenseite nicht mehr erkennt, weil mit Fortschreiten einer Netzhauterkrankung die Sehkraft nachgelassen hat. Oder, wenn man nicht mehr genau sieht, welchen Geldschein man aus dem Portemonnaie an der Supermarktkasse ziehen muss? Seltene chronische Augenerkrankungen sind für andere zumeist unsichtbar. Betroffene haben in vielen Lebensbereichen mit neuen Herausforderungen zu rechnen. Jetzt hilft ihnen ein neues Checkheft, sich für typische Alltagssituationen besser zu wappnen und sich geeignete Hilfe zu holen.
Die Augenklinik des Universitätsklinikums Münster hat im Rahmen eines von der Robert Bosch Stiftung geförderten Projekts in Zusammenarbeit mit PRO RETINA Deutschland e.V. ein Checkheft für Menschen mit seltenen Netzhauterkrankungen erarbeitet. Es soll in der klinischen und augenärztlichen Praxis eingesetzt werden und nach der Diagnose den Betroffenen erste Hinweise und Anregungen geben, um auch bei einer eintretenden Sehbeeinträchtigung den Erhalt von für das Alltags- und Berufsleben wichtigen Kompetenzen zu unterstützen.
Mannigfaltige Bewältigungsprobleme zwischen vollsehend und blind
Es gibt über 100 erblich bedingte Netzhauterkrankungen, sie sind ausnahmslos selten. Nur für einige wenige ist derzeit eine wirksame Therapie verfügbar. In Deutschland leben ca. 30.000 Betroffene. Das Fortschreiten der Netzhautdegeneration verlangt eine Anpassung und Kompensation. „In dieser 'Grauzone' zwischen vollsehend und blind sind erfahrungsgemäß mannigfaltige Bewältigungsprobleme angesiedelt“, sagt Prof. Nicole Eter, Direktorin der Augenklinik, „wir möchten, dass Betroffene möglichst früh Hinweise erhalten, damit sie aufmerksam und aktiv mit der Situation umgehen können.“
Ein schleichend abnehmendes Sehvermögen kann zu Unsicherheiten, z. B. beim Überqueren einer Straße, führen. Diese und weitere Situationen und Tätigkeiten werden konkret im Checkheft genannt, und erlauben so eine persönliche Überprüfung in einem Rundum-Blick auf die eigene Lebenssituation. Für die strukturierte Sammlung wurden bewährte Hinweise in vier Workshops zusammengetragen. Mit ihren Erfahrungen daran beteiligt waren viele Aktive der PRO RETINA. „Als Selbsthilfevereinigung möchten wir, dass neu Betroffene von unseren Erfahrungen profitieren und nach der Erstdiagnose vom Augenarzt möglichst früh auf die Thematik aufmerksam gemacht werden“, sagt Franz Badura, Vorsitzender der PRO RETINA Deutschland, „der langsame Krankheitsverlauf begünstigt, dass man als Betroffener wegschaut und das Problem lange verdrängt. Das bringt auch Gefahren mit sich und kann das Leben unnötig erschweren.“
90 Chancen, sich das Leben mit einer Netzhauterkrankung zu erleichtern
Zu insgesamt etwa 90 Kompetenzen aus verschiedenen Lebensbereichen wie Mobilität, Beruf, Ernährung und Freizeit werden einfache Bewältigungsstrategien beschrieben, als Startpunkt für die eigene weitere Befassung. Dabei werden auch einfache alltägliche Kompetenzen wie das Erkennen von Geldscheinen und Münzen oder das Würzen von Speisen angesprochen. „Der Grundtenor des Checkhefts ist von dem Optimismus geprägt, dass eine selbstbestimmte Lebensführung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auch mit Sehbeeinträchtigung erhalten bleiben kann“, betont Dr. Frank Brunsmann, Fachbereichsleiter Diagnose und Therapie der PRO RETINA Deutschland.
Im Rahmen des Projekts wird derzeit in einer wissenschaftlichen Studie der Augenklinik die Wirkung der Aushändigung des Checkhefts in der klinischen Versorgung untersucht. „Wenn sich das Checkheft in der Praxis bewährt, denken wir perspektivisch auch an eine Nutzung und gegebenenfalls Anpassung für andere Patientengruppen, wie etwa zur Altersabhängigen Makuladegeneration“, meint Dr. Nataša Mihailovic, Oberärztin der Augenklinik.
Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung können betroffene Menschen auch durch den Kontakt zu einer Selbsthilfeorganisation wie PRO RETINA Deutschland erfahren. In über 60 Städten und Regionen, so auch in Münster, sind mehr als 400 Mitglieder dieser Vereinigung aktiv, um informierend, beratend und unterstützend zur Seite zu stehen.
Das Checkheft wird auf den Seiten der Augenklinik und der PRO RETINA (www.pro-retina.de) zum Download bereit stehen.
Pressekontakt zum Checkheft-Projekt:
Frau Monika Vuko
Klinik für Augenheilkunde, Universitätsklinikum Münster
T +49 251 83-56010
Monika.Vuko(at)ukmuenster(dot)de