Frau Dr. Brunotte, wie ist die derzeitige Infektionslage aus ihrer Sicht?
Wir erwarten, dass die Inzidenzen rasant weiter steigen. Im Moment befinden wir uns ein wenig im Blindflug. Viele Gesundheitsämter arbeiten über die Feiertage nicht und es wurden daher auch keine Infektionszahlen übermittelt. Insofern kann das RKI die wirklichen Inzidenzen gar nicht richtig abbilden. Wir sollten uns davon nicht täuschen lassen. Wir erwarten die ersten belastbaren Zahlen erst wieder zu Mitte bis Ende Januar. Erst dann werden wir wirklich wissen, wie sich Omikron weiterausgebreitet hat.
Ist also die derzeit spürbare Entspannung in der Bevölkerung ein Trugschluss?
Das ist wirklich ein Trugschluss und sehr gefährlich. Ich spüre das tatsächlich auch: Es hat sich eine Erleichterung breitgemacht und die Menschen sind ein bisschen unbeschwerter, treten auch wieder mehr in Kontakt mit anderen. Dabei nehmen sie die bekannten Schutzregeln dann oft nicht mehr so genau und die Inzidenzen scheinen ihnen da Recht zu geben, weil sie ja zuletzt eher niedrig waren. Wir sollten uns davon nicht fehlleiten lassen, sondern darauf achten, dass wir Masken tragen und Abstand halten und uns weiter mit so wenig Menschen wie möglich treffen. Im Moment wissen wir nicht, wann Omikron sich maximal ausgebreitet haben wird.
Was können wir aus der Situation in anderen Ländern ableiten, in denen sich Omikron schon durchgesetzt hat?
Wir sollten auf jeden Fall auf unsere Nachbarländer schauen. Es ist nicht davon auszugehen, dass wir hier von hohen Ansteckungszahlen mit Omikron verschont bleiben und deswegen sollten wir die richtigen Schutzmaßnahmen ableiten und ergreifen. Jeder sollte sich klarmachen, dass er ein Infektionsrisiko hat und eine Verantwortung für andere, die sich nicht mit einer Impfung schützen konnten. Also zum Beispiel Vorerkrankte oder Kinder. Deswegen ist eine Entscheidung zur Impfung als Schutzmaßnahme eine Entscheidung, die man nicht nur für sich selbst, sondern im Sinne aller trifft.
In den USA ist Omikron bereits vorherrschend und trifft vor allem Kinder…
In New York ist die Zahl der schweren Erkrankung von Kindern stark angestiegen und parallel auch die Zahl der Krankenhauseinweisungen in dieser Altersgruppe. Das ist äußerst besorgniserregend und eine schlechte Nachricht. Wir müssen die Ausbreitung hier deswegen sehr genau beobachten. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Kleinsten ungeimpft sind und auch die Altersgruppe ab fünf Jahren häufig noch ungeschützt ist, weil sie noch keine Impfung erhalten haben.
Wie können wir ähnlich hohen Infektionszahlen bei Kindern wie in den USA vorbeugen?
Ich würde mir wünschen, dass insgesamt mehr Augenmerk auf die Kinder gelegt würde. Die Impfungen sind auch für Kinder sicher, es gibt sehr wenige Nebenwirkungen und die Kinder vertragen die Impfung gut. Die Impfung schützt vor Infektion und schwerer Erkrankung. Natürlich dauert es noch, bis alle Kinder auch geimpft sind. Deswegen ist jetzt die Politik gefordert: Die Kinder gehen zur Schule und dort müssen entsprechende Vorsichtsmaßnahmen in die Wege geleitet werden. Aus virologischer Sicht wären kleinere Klassengrößen sinnvoll sowie umfassende und verpflichtende Teststrategien zur schnellen Erfassung von Infektionen. Da Omikron so hochübertragbar ist, sollten außerdem die Quarantäne-Regeln optimiert werden. Positive Schüler und Sitznachbarn, im besten Fall die betroffene Klasse, sollten in Quarantäne bzw. Isolation und umgehen getestet werden um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern.
Sicherlich ist auch das Homeschooling eine Option - da wo es ohne weitere negative Folgen für die Kinder möglich ist und von Eltern neben der Arbeit umgesetzt werden kann. Auch dadurch könnten Klassengrößen verringert werden. Eine weitgehende Kontaktverminderung auch in den Schulen wäre ein großer Vorteil und aus meiner Sicht nötig.
Es gibt auch Wissenschaftler, die in der Durchseuchung der Bevölkerung durch Omikron die Chance auf ein Ende der Pandemie sehen. Ist das auch ihre Meinung?
Ich persönlich teile das nicht. Im Moment höre ich oft, dass Omikron zu keiner sehr schweren Erkrankung führt. Allerdings ist das Virus eben hoch übertragbar. Und wie dürfen nicht vergessen, dass es selbst bei leichteren Krankheitsverläufen zu Folgeerkrankungen wie Long Covid kommen. Als Virologin möchte ich das Risiko nicht eingehen, dass wir flächendeckend Menschen infizieren, selbst wenn die Symptome leicht wären. Dadurch, dass mittlerweile viele geimpft sind, gehen wir davon aus, dass weniger Menschen schwer erkranken, das ist das Ziel der Impfung. Ob das wirklich dazu führt, dass sich das Virus abschwächt kann man noch nicht wirklich vorhersagen. Wir müssen ja immer davon ausgehen, dass wieder neue Virusvarianten entstehen können. Eine Durchseuchungsstrategie halte ich deshalb für falsch denn sie geht immer mit sehr hohen Verlusten einher. Es kommt dabei immer zu hohen Krankheitszahlen und wird auch viele Tote zur Folge haben. Ich denke, dass wir uns das in Deutschland nicht leisten können und wollen.
Wie ist ihre persönliche virologische Prognose für das kommende Jahr?
Ich denke, dass der Weg aus der Pandemie noch ein langer Weg werden wird, wir werden auch in 2022 noch lange damit beschäftigt sein. Ich rechne schon mit niedrigeren Inzidenzen in den Sommermonaten, aber ich würde nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass wir im darauffolgenden Winter nicht auch noch mit einer fünften Welle zu rechnen haben. Wir wissen einfach nicht, was noch an Varianten auf uns zukommt. Und dann sollte man auch den globalen Aspekt im Auge behalten: Viele Länder haben unbegrenzten Zugang zu Impfstoffen - andere haben aber keinen. Eine rein nationale Pandemie-Strategie wird uns langfristig nicht aus der Situation herausführen. Das heißt, es muss weltweit zu einem Umdenken in der Politik kommen und wir müssen uns gemeinsam eine globale Pandemie-Strategie überlegen.