Dass Johanna kein Mädchen war, das man in rosa Tüll hüllen konnte, war ihren Eltern früh klar. „Sie wollte schon immer wie ein Junge herumlaufen“, sagt die Mutter. „Eskaliert ist das Ganze, als wir unsere Tochter zur Hochzeit ihrer Tante versucht haben, in ein Kleid zu stecken. Das war tatsächlich eine Schlüsselsituation.“ Johanna, die in ihrer Hockey-Mannschaft als einzige Fußball-Shorts statt des üblichen Röckchens trug, verweigerte jede Identifikation mit ihrer angeborenen Rolle als Mädchen. „Wir dachten allerdings, das wächst sich noch aus“, sagt ihr Vater heute. Doch mit Einsetzen der typischen Pubertätsmerkmale erlitt Johanna einen psychischen Zusammenbruch. Erstmals sprach die zu diesem Zeitpunkt 12-Jährige aus, dass sie sich als Junge fühle und dass sie die gegenteilige körperliche Entwicklung einfach nicht ertragen könne. Die Eltern reagierten und kamen in die interdisziplinäre Sprechstunde für Geschlechtsdysphorie (Diskrepanzerleben zwischen gefühlter Geschlechtsidentität und bei Geburt zugewiesenem Geschlecht) der Kinder- und Jugendpsychiatrie am UKM (Universitätsklinikum Münster).
„Das war für Ben, wie Johanna heute heißt, ein großes Glück, denn normalerweise wehren sich Eltern zunächst gegen den Gedanken, dass ihre Tochter ein Sohn sein könnte oder umgekehrt. Dazu kam, dass Ben sehr glaubhaft und klar definiert hat, dass er sich von frühester Kindheit an im falschen Körper befunden hat und sich niemals als Frau fühlen würde“, sagt Diplom-Psychologin Dr. Birgit Möller, die in ihrer Sprechstunde sogenannte transidente Kinder begleitet.
Doch wie kann man mit Sicherheit sagen, dass das Empfinden des „falschen“ Geschlechts bei transidenten Jugendlichen nicht nur vorübergehend ist? „Es gibt keine objektiven Parameter oder Tests. Man kann nur den Beschrei-bungen der Kinder lauschen, daraus ergibt sich dann ein Bild“, sagt Möller. Und der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Prof. Georg Romer ergänzt: „Dass für alle aus Johanna Ben wurde, war ein intensiver Prozess mit der ganzen Familie in vielen Gesprächen. Auch wenn bei Ben das Bild sehr früh eindeutig schien, bleibt es in jedem Fall eine schwerwiegende Entscheidung. Daher nehmen wir uns Zeit und treffen keine Schnelldiagnosen“
Bleibt der Wunsch nach Geschlechtsangleichung, wird zunächst die einsetzende Pubertät gestoppt – je früher das erfolgt, desto weniger Probleme entwickeln die Jugendlichen im Verlauf. Irreversibel wird die Entscheidung für das andere Geschlecht erst durch eine gegengeschlechtliche Hormonbehandlung. Ben bekommt seit nunmehr eineinhalb Jahren Testosteron-Spritzen, die körperliche Veränderungen zum Männlichen hin bewirken. Seine Stimme ist tiefer geworden und der erste Bartwuchs setzt ein. „Das ist die erste Pubertät, die mir gefällt“, sagt Ben – ein Satz, den man wohl selten von einem 16-Jährigen hört. Doch die Freude über die zunehmende Stimmigkeit in Bezug auf die Geschlechtsidentität und das Körpergefühl, das sich jetzt endlich richtig anfühlt, begleitet Ben jeden Tag. Irgendwann hat er möglicherweise den Wunsch, operiert zu werden, um auch in Bezug auf die primären Geschlechtsmerkmale äußerlich ein Mann zu sein. Doch das dauert noch: Genital-Operationen werden in der Regel erst nach Erreichen der Volljährigkeit durchgeführt.
Ben, ist jetzt 16 Jahre alt spielt noch immer leidenschaftlich Hockey. Inzwischen weist ihn sein Spielerpass als jungen Mann aus und er ist Feldspieler in der Männermannschaft. Mit den Mädchen seiner alten Mannschaft ist er weiter eng befreundet, auch weil alle so offen und verständnisvoll auf seine Transformation reagiert haben. Auf die Frage, ob es nicht schwer ist, das erdachte Wunschbild der Tochter Johanna aufzugeben, haben die Eltern eine deutliche Antwort: „Es ist nicht so, als ob wir eine Tochter verloren und einen Sohn gewonnen haben. Wir wollten nur das Beste für unser Kind und dass es ihm nicht weiter schlecht geht. Das ist das Wichtigste.“
Info:
Erst in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden in Deutschland erste Fälle von transidentitären Jugendlichen ärztlich begleitend behandelt. Prof. Georg Romer und Dr. Birgit Möller begründeten 1998 am Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf eine der ersten Spezialsprechstunden für Betroffene. Nach dem Wechsel der beiden nach Münster, wurde am UKM 2014 die Sprechstunde für Geschlechts-dysphorie eröffnet. Romer und Möller sind auch maßgeblich an der aktuell entstehenden Neufassung der wissenschaftlichen Leitlinien für die Behandlung von Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter beteiligt, in die alle neueren wissenschaftlichen und klinischen Erkenntnisse einfließen und die die Grundlage für eine Entscheidungsfindung von Ärzten bilden.