Normalerweise stehen Kinder in den Ferien ungern früh auf - die achtjährige Helene und ihre sechs Jahre alte Schwester Alina aus Glandorf aber sind gutgelaunt morgens beim Termin in der Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie am UKM (Universitätsklinikum Münster) erschienen. In der Ambulanz für Sprachentwicklungsstörungen bespricht ihre Mutter Petra Grove regelmäßig die Fortschritte, die ihre beiden Töchter sprachlich machen. Beide Mädchen sind seit Jahren in logopädischer Behandlung. Bei beiden wurde eine primäre Störung der Sprachentwicklung festgestellt, die meist auf genetischen Ursachen basiert. „Familie Grove ist ein typischer Fall: Schon der ältere Bruder hatte eine Sprachentwicklungsstörung. Deshalb war die Mutter vorgewarnt und hat Helene und Alina hier zur Diagnostik und Therapie vorgestellt. Inzwischen hört man bei beiden praktisch keinen Unterschied mehr zu anderen Kindern dieses Alters“, sagt Fachärztin Dr. Sabrina Regele, die die weitere Therapie der Mädchen überwacht. Aktuell führt die Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie mit über 300 Kindern eine deutschlandweite Studie zu den optimalen Behandlungsmethoden und Settings von Sprachentwicklungsstörungen durch.
Sechs bis acht Prozent aller Kinder im Vorschulalter haben eine Sprachentwicklungsstörung, die nicht auf andere Ursachen zurückgeführt werden kann. Faktoren wie schlechtes Hören, eine neurologische Erkrankung, Intelligenzminderungen oder auch tiefgreifende Entwicklungsstörungen, wie sie etwa bei einer Autismus-Spektrumstörung vorliegen, werden im ersten Schritt ausgeschlossen. „Seit längerem weiß man, dass Sprachentwicklungsstörungen vorwiegend erbliche Ursachen haben. Dies wird auch in einer Studie mit unserem Institut für Humangenetik und der hiesigen Klinik für Radiologie untersucht.“, sagt die Direktorin der Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie, Univ.-Prof. Katrin Neumann. Sie koordiniert die neuen S3-Leitlinien zur Therapie von Sprachentwicklungsstörung „Es scheint so zu sein, dass zum Beispiel die übliche Therapieverordnung von Logopädie einmal pro Woche nicht immer die effektivste Behandlung ist“, so Neumann. „Wir möchten die Qualität von Sprachentwicklungstherapien verbessern. Die Leitlinien sollen festschreiben, welche Elemente einer Therapie erfolgreich sind und welche nicht.“
Grundsätzlich sei eine Sprachentwicklungsverzögerung, die in der Hälfte der Fälle im Alter zwischen zwei und drei noch aufgeholt wird, von der danach manifest werdenden Sprachentwicklungsstörung, die therapiebedürftig ist, abzugrenzen. Viele Kinder hätten auch nur vorrübergehende umgebungsbedingte Sprachauffälligkeiten, etwa, wenn sie in einem Elternhaus aufwüchsen, dessen Erstsprache nicht Deutsch ist, so Neumann. Dass aber Sprachentwicklungsstörungen in jedem Fall Auswirkungen auf das weitere Leben haben können, ist Neumann wichtig: „Sie wirken sich aus auf Bildung, Berufschancen und damit auch auf Einkommen sowie Partnerwahl. Deswegen ist es so wichtig, diese häufigste Störung der Entwicklung im Kindesalter ernst zu nehmen und angemessen zu therapieren.“