Tomate, Apfel, Banane – im Kaufmannsladen geht Milan Lobüscher wie selbstverständlich mit dem Spielzeug-Gemüse um und steckt sich schließlich noch den Holz-Lutscher in den Mund. Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, dass der Umgang des Dreijährigen mit Nahrung insgesamt entspannter geworden ist. Noch im letzten Herbst war das anders. Milans Eltern, Sandra und Markus Lobüscher, waren verzweifelt, weil ihr Sohn seit einigen Monaten nicht mehr essen wollte. „Es gab nur noch Tränen und Geschrei auf beiden Seiten“, räumt Sandra Lobüscher ein, „aber der Kinderarzt hat uns immer nur vertröstet und gesagt, dass es sich sicher nur um eine Phase handelt“. Als die „Phase“ dann ein gutes Jahr dauerte, Milan sichtlich abgenommen hatte und drohte, nicht mehr zu gedeihen, wurde er an die psychosomatische Ambulanz der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am UKM (Universitätsklinikum Münster) verwiesen.
Für deren Leiterin, Dr. Martina Monninger, ist der rotblonde Junge kein Einzelfall: „Milan war ein ‚picky eater‘ – das sind Kinder, die nur wenige Lebensmittel essen und alles Neue komplett verweigern. Das ist ein Stück weit normal, denn jedes Kind macht immer wieder sogenannte neophobische Phasen durch, in denen die Angst vor ungewohnten Lebensmitteln Kinder schützen soll. So verhindert die Evolution, dass sich Kinder mit unbekannten Lebensmitteln ‚vergiften‘.“ Es handelt sich also eigentlich um einen sinnvollen Reflex, der das Überleben sichert, so Monninger. Bei Fütterstörungen sei allerdings dieser natürliche Prozess innerfamiliär aus dem Ruder gelaufen.
Bei den Lobüschers war Milans Nicht-Essen-Wollen so weit eskaliert, dass die Interaktion zwischen Mutter und Kind nachhaltig gestört war. „Alles hatte sich aufgeschaukelt, die mit dem Essen verbundenen Gefühle wurden nur noch negativ wahrgenommen“, sagt die Logopädin Susanne Renk. Sie betreute die beiden, nachdem sie kurzfristig stationär aufgenommen wurden, bei jeder Mahlzeit. „Dabei beobachten wir sowohl das Verhalten des Kindes als auch die Reaktionen der Mutter darauf und geben Rückmeldung. Das hilft den Eltern, die Signale ihres Kindes besser zu verstehen.“ Ganz wesentlich sei es, die kindheitlichen Esserfahrungen der Eltern mit in den Blick zu nehmen und zu hinterfragen.
Ein gutes halbes Jahr nach seinem vierwöchigen stationären Aufenthalt hat Milan sichtbar zugenommen und wirkt ziemlich zufrieden. „Wir können hier natürlich nicht zaubern“, sagt Martina Monninger. „Aber die Medizin hat sich in den letzten zwanzig Jahren im Bereich der Fütterstörungen sehr weiterentwickelt. Anders als in früheren Zeiten bringen Ärzte jetzt Verständnis für beide Seiten mit und wissen, dass es in erster Linie gilt, den Kreislauf des Essen-Müssens und des Essen-Verweigerns zu durchbrechen. Und wir können den Eltern die Sorge nehmen, dass ihr Kind verhungert.“
Mit einem Symposium zur stationären Therapie von Fütterstörungen will die Pädiatrie am UKM daher am 20. Juni niedergelassene Kinderärzte und Therapeuten aufklären.