ukm/aw
Herr Prof. Senninger, sie leiten die Allgemein- und Viszeralchirurgie seit dem 1. Oktober 1996. Was hat sich seitdem am deutlichsten verändert?Das für mich Augenfälligste sind die Veränderungen in der chirurgischen Ausbildung. Als wir früher unsere chirurgische Ausbildung hatten, waren 24 Stunden, ja bisweilen 36 Stunden in der Klinik durchaus keine Seltenheit. Heute ist es so, dass die Mitarbeiter, die zum Dienst kommen, nachmittags um 14:30 Uhr eintreffen und morgens um acht Uhr gehen. Zumindest offiziell. Die besseren Arbeitszeitbedingungen fordern ihren Tribut: Chirurgen werden heute weniger breit ausgebildet, dafür spezialisieren sie sich eher. Muss das in einer Chirurgie, die immer mehr möglich machen kann, nicht auch zwingend so sein?
Absolut. Als ich damals berufen wurde, sah ich mich als chirurgischen Zehnkämpfer. Dieser Zehnkämpfer stirbt mittlerweile aber aus. Der Grund hierfür ist die rasante Weiterentwicklung der Chirurgie: Laparoskopische Chirurgie, roboterbasierte Chirurgie, Spezialitäten im Bereich Speiseröhre, Rektum u.s.w., die nicht mehr notwendigerweise von allen beherrscht werden. Heute muss man seine zwei, drei Schwerpunkte haben. Die Chirurgie hat sich dramatisch voran entwickelt. Und jeden Tag kriegen wir fast exponentielle Wachstumsschübe und Wissenszuwächse. Ein wachsender Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Tumorchirurgie…
Wir haben alle glücklicherweise eine deutlich gehobene Lebenserwartung. Die Menschen werden älter und entwickeln daher häufiger Tumore. Wir führen hier am UKM seit Jahren äußerst erfolgreich unsere interdisziplinären Tumor-konferenzen durch, bei denen Tumoren durch Spezialisten aller beteiligten Fächer besprochen und auf oberstem Niveau behandelt werden. Wir sind ganz besonders auf die Behandlung von Tumoren des Verdauungstraktes spezialisiert und zertifiziert, also vor allem bei Tumoren von Speiseröhre und Magen, Tumoren der Bauchspeicheldrüse, Leber und Darmtumoren. Aber auch die Transplantationsmedizin haben Sie ausgebaut. Unter Ihrer Ägide wurde Münster auch zum Transplantationszentrum für Leber und Dünndarm sowie Lebendspendetransplantation der Niere…
Die transplantationsbezogenen Operationen sind bei uns sicherlich die Krönung der Chirurgie. Wenn sie das kalte, perfundierte Organ implantiert haben und sie nehmen die Klemme von den Gefäßen – dann ist es wirklich wie der erste Schrei eines Säuglings. Er war ja so, dass seit den 70er Jahren Nieren und seit 1989 Lebern am UKM transplantiert werden, letztere damals aber nur mit zwischen drei und vier Transplantationen pro Jahr. Uns ist es gelungen, das auf ein Niveau zu heben, das quantitativ und qualitativ überall konkurrieren kann. Wir transplantieren momentan durchschnittlich zwischen 30 und 40 Lebern pro Jahr. Dazu kommen ca. 90 Nierentransplantationen pro Jahr, wobei etwa die Hälfte davon Lebendspenden sind. Aber man muss sagen – es hat sich hier in den letzten Jahren eine beklagenswerte Entwicklung breit gemacht. Nämlich, dass Deutschland mit Abstand das Schlusslicht ist bei der Organspende. Länder mit Widerspruchsregelung sind uns da weit voraus. Und wenn ihnen so viele Patienten auf der Transplantationsliste versterben ohne je die Chance auf eine lebensrettende Transplantation erhalten zu haben, wissen sie, dass unsere Regelung nicht die richtige ist. Wohin geht die Zukunft der Chirurgie?
Mit Hand, Herz und Hightech - das ist unser Motto hier. Hand und Herz, das ist einfach: Ohne Hand ist ein Chirurg nichts wert. Ohne Herz dabei ist das Handwerk auch nur die Hälfte wert. Und Hightech - das ist unsere Zukunft. Hightech, das ist zum einen natürlich die Verwendung von Robotern. Zum anderen liegt die Zukunft im 3-D-Druck und bei der molekularen Stammzellen-forschung. Beim 3-D-Druck werden dreidimensionale Gebilde künstlich hergestellt. Bislang funktioniert das für die Medizin mit unbelebten Materialien. Was uns in Zukunft interessieren wird, ist 3-D-Druck aus belebten Zellen. Dass man zum Beispiel eine funktionierende Leber aus den einzelnen Bestandteilen aufbaut. Dafür brauchen wir wiederum die Stammzellforschung. Mit Blick auf die niedrige Zahl an Organspendern ist das natürlich etwas, wo es verlockend ist, 50 oder 100 Jahre vorauszuschauen. Wenn sie einen Wunsch frei hätten – wie sollte dann die Chirurgie in 20 Jahren aussehen?
Ich würde mal anders herum anfangen, nämlich was ich mir wünsche, was die Chirurgie in den nächsten 20 Jahren nicht VERLIEREN sollte: Die Chirurgie sollte nicht verlieren, dass es eine Tätigkeit von Menschen an Menschen ist und nicht von Robotern an Dingen. Dass ein Chirurg ein Arzt ist, der auch operieren kann. Und deswegen müssen sich die Chirurgen enorm dagegen verwahren, nur in den OP gedrückt zu werden – aus Zeitdruck oder aus Wirtschaftlichkeitsgründen. Ein Chirurg ist eben nicht nur Operateur. Die menschliche Komponente – die Sympathie für den Patienten - würde fehlen.