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Die Zahlen sind alarmierend: Bei etwa einem Fünftel aller 11- bis 17-Jährigen in Deutschland liegt ein Verdacht auf eine Essstörung vor. „Dabei ist der Anteil von auffälligen Jungen und Mädchen im jüngeren Alter etwa gleich hoch. Mit zunehmendem Alter nimmt jedoch der Anteil der auffälligen Mädchen zu, der der Jungen ab. Bei jedem dritten Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren gibt es Hinweise auf eine Essstörung, bei den Jungen sind 13,5 Prozent auffällig. Essstörungen sind keine Seltenheit“, erklärt Prof. Dr. Tilman Fürniss, Direktor der Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Münster (UKM). Die Therapie von Essstörungen zählt zu den Behandlungsschwerpunkten der Klinik. Am 11. Januar veranstaltete die Klinik erstmals ein Fachsymposium zur integrierten tagesklinischen und vollstationären Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Essstörungen und ihren Familien. Zu den Referenten zählten auch internationale Experten aus London und Dresden. Deutschlandweite Zahlen zu Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen bietet eine Studie des Robert-Koch-Instituts mit 17.000 Teilnehmern. „Bei Mädchen und jungen Frauen ist z.B. die Magersucht (Anorexia Nervosa) die dritthäufigste chronische Erkrankung. 0,3 Prozent der Mädchen und Frauen im Alter von 14 bis 24 sind betroffen“, so Dr. Annabel Köchling, Oberärztin der Klinik. Neben der Magersucht und der Bulimie (Ess-Brechsucht) zählt die Binge-Eating-Störung (unkontrollierte Ess-Attacken) zu den Hauptformen der Essstörung. Hinzu kommen zahlreiche weitere Formen.
Von zentraler Bedeutung der Therapie sei die integrierte Einbeziehung der Familie. Ein Ansatz, den die UKM-Klinik in Pionierarbeit in Deutschland verfolgt und weiter ausbaut. Prof. Fürniss: „Kinder und Jugendliche leben noch in strukturellen Abhängigkeitsverhältnissen von der Familie und sind fest in sie eingebunden. Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen sind nicht nur ein schwerwiegendes hormonelles, seelisches und körperliches Problem und im Extremfall lebensbedrohende Erkrankungen. Sie beinträchtigen und belasten auch jedes Familienleben. Die Familie wird zu einem eigenen Suchtsystem. Hier muss daher auch die Therapie einsetzen.“ So werden in der neuen Esstagesklinikbehandlung der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des UKM die Kinder und Jugendlichen gemeinsam mit ihren Familien integriert behandelt, um den Eltern und Familien in oft verzweifelten Familiensituationen und Lebensumständen mit ihren essgestörten Kindern zu helfen. Essstörungen umspannen alle Lebensalter, so können bereits Säuglinge an schweren Fütter- und Essstörungen erkranken, die in der spezialisierten Familientagesklinik für Vorschulkinder und ihre Eltern und Familien behandelt werden, so Fürniss. Prof. Fürniss selbst wurde am "Royal Free Hospital" in London ausgebildet, an dem vor 40 Jahren das Krankheitsbild der Bulimie zum ersten Mal beschrieben und behandelt wurde.
So vielfältig und individuell wie die Ursachen einer Essstörung sind, können auch die Hinweise darauf sein. Dr. Köchling: „Die Übergänge von einer merkwürdigen Essweise zu einer krankhaften Störung sind fließend. Essstörungen entstehen nicht von heute auf morgen. Wenn Eltern, Lehrkräfte oder andere Vertrauenspersonen einen Verdacht einer Essstörung haben, sollten die Symptome bei einem Kinder- und Jugendpsychiater abgeklärt werden. Denn nur mit einer frühzeitigen erfolgreichen Therapie können auch die schwerwiegenden chronischen Gesundheits- und Entwicklungsfolgen einer Essstörung vermieden werden.“ Beispiel Bulimie (Ess-Brechsucht): Sie tritt häufig erst gegen Ende des Jugendalters und wird vor allem bei Mädchen diagnostiziert. Meist tritt sie eher in der Spätpubertät auf. Eine Erkrankungsdiagnose vor dem 12. Lebensjahr ist selten, international sind schätzungsweise zwei bis vier Prozent der Bevölkerung an dieser Essstörung erkrankt. Hier kann es je nach Verlauf zu Nierenschäden oder Herzrhythmusstörungen kommen, auch Zähne und Speicheldrüsen können angegriffen werden. Weitere Folgen können Depressionen, Angststörungen oder Zwangserkrankungen sein. Prof. Fürniss: „Bis zu einem Prozent der an Bulimie erkrankten Menschen sterben an dieser Essstörung.“ Bei der Magersucht verstirbt jeder zehnte Betroffene. „So unterschiedlich sich Essstörungen zeigen, eines ist für alle kennzeichnend: Essensthemen bestimmen das Leben der Betroffenen und ihrer Familien, belasten sie oft im Extrem und führen oft zu hilflosen und verzweifelten Eltern und hochgradig zerstörerischen Familienkonflikten, die nur frühzeitig fachärztlich-therapeutisch zu lösen sind“, betonen Fürniss und Köchling.
Das heutige (11. Januar) Symposium der Klinik war in dieser Form eine Premiere. „Wir wollen damit die Einbindung der Eltern und der Gruppe der Eltern als zentralen Therapiebaustein in die Gesamtbehandlung ihres essgestörten Kindes sicherstellen und im Symposium die Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Begrenzungen der Multifamilientherapie beleuchten. Gleichzeitig wollen wir das Behandlungsangebot der integrierten teilstationären tagesklinischen und der vollstationären Behandlung schwerer Essstörungen im Kinder- und Jugendalter vorstellen“, so Fürniss.