Klinik für Medizinische Genetik

Genetische Störungen der Geschlechtsdifferenzierung

Beim Menschen erfolgt die Festlegung des Geschlechts bei der Befruchtung durch die Zusammensetzung der Geschlechtschromosomen (XX bei der Frau und XY beim Mann). Dennoch ist die Geschlechtsentwicklung zunächst bisexuell angelegt, wobei die Gonaden sich im frühen Stadium der Embryogenese sowohl in Richtung Testes als auch Ovarien differenzieren können. Ebenfalls lassen sich in dieser frühen Phase sowohl  Wolffsche Gänge, die sich im männlichen Geschlecht zu Nebenhoden, Samensträngen, Samenbläschen und einem Teil der Prostata differenzieren, als auch Müllersche Gänge, die sich im weiblichen Geschlecht zu Eileitern, Uterus und dem oberen Anteil der Scheide entwickeln, nachweisen.

In Anwesenheit eines Y-Chromosoms entwickeln sich Hoden aus den bipotenten Gonadenanlagen. Dabei kommt es zunächst zur Differenzierung der Sertoli-Zellen, die das Anti-Müller-Hormon (AMH) produzieren. AMH bewirkt die Rückbildung der Müllerschen Gänge. Danach entwickeln sich die Leydig-Zellen, die Testosteron sezernieren. Testosteron bewirkt die Differenzierung der Wolffschen Gänge. Ferner wird Testosteron zu Dihydrotestosteron (DHT) umgewandelt, welches die Differenzierung des männlichen äußeren Genitales hervorruft.

In Abwesenheit eines Y-Chromosoms entwickeln sich unter der Wirkung unterschiedlicher Faktoren die Gonaden zu Ovarien. Aufgrund der fehlenden AMH-Produktion entwickeln sich die Müller-Gänge zu Eileitern, Uterus und oberem Anteil der Vagina. Wegen der fehlenden gonadalen Testosteronsekretion bilden sich die Wolffschen Gänge zurück und die Virilisierung des äußeren Genitales bleibt aus.

Bei den XY-Gonadendysgenesien liegt eine Differenzierungsstörung der Gonaden vor, wobei die Gonaden nur noch oder teilweise aus fibrotischem Gewebe bestehen. Bei der kompletten Gonadendysgenesie bestehen die Gonaden nur noch aus fibrotischem Gewebe („Stranggonaden“), Keimzellen und endokrin aktive Zellen lassen sich nicht nachweisen. Dementsprechend unterbleibt daher die Virilisierung des inneren und äußeren Genitales, da gonadale Androgene nicht gebildet werden. Die XY-Gonadendysgenesie ist ein sehr heterogenes Krankheitsbild. Es kann durch Chromosomenstörungen oder Genmutationen bedingt sein. Für die Entwicklung der bipotenten Gonaden ist die Wirkung unterschiedlicher Gene wie WT1 (Wilm‘s Tumor) und SF1 (steroidogenic factor 1) erforderlich, deren Mutationen erwartungsgemäß zur Gonadendysgenesie in beiden Geschlechtern führen. Da WT1 nicht nur für die Gonadendifferenzierung, sondern auch für die Entwicklung der Nieren bedeutsam ist, sind Mutationen dieses Gens typischerweise mit einer Nephropathie assoziiert. SF1 ist nicht nur für die Entwicklung der Gonaden, sondern auch der Nebennieren verantwortlich, so dass Mutationen dieses Gens typischerweise  eine Gonadendysgenesie und eine adrenale Insuffizienz hervorrufen. Je nach Mutationen dieser Gene kann aber auch eine isolierte Gonadendysgenesie vorliegen. 

Für die Differenzierung der bipotenten Gonade zu einem Testis sind unterschiedliche Gene verantwortlich. Das  Y-chromosomale  Gen, das für die Testisdifferenzierung verantwortlich ist, ist - wie oben erwähnt – SRY (Sex Region of the Y chromosome).  Deletionen oder Nukleotidmutationen von SRY werden in etwa 20 - 30% der Fälle von isolierter XY-Gonadendysgenesie festgestellt. Weitere Gene, deren Mutationen eine XY-Gonadendysgenesie hervorrufen, sind z.B. DMRT1, CBX2, SOX9, DHH und  DAX1 (Wieacker, 2015). Wir konnten bei Patienten mit schwerer Hypospadie, Kryptorchismus oder „vanishing testes“ Mutationen im WT1-Gen nachweisen (Köhler et al., 2011).

In Patienten mit XY-Gonadendysgenesie ohne adrenale Symptomatik wurden neue Mutationen identifiziert (Köhler et al., 2008). In einer Kohorte von 84 Patienten mit XY-Gonadendysgenesie konnten 6 Mutationen (7%) festgestellt werden. Demnach ist nach SRY SF1 die zweithäufigste Ursache für XY-Gonadendysgenesie. Wir konnten ferner zeigen, dass SF1-Mutationen Ursache für eine isolierte Störung der Spermatogenese sein können (Röpke et al., 2013).

Mittels Array-CGH-Analyse konnten wir bei Patientinnen mit XY-Gonadendysgenesie mehrere Fälle von Mikrodeletionen nachweisen, die das DMRT1-Gen  einschließen (Ledig et al., 2010). Ferner wurden DMRT1-Mutationen in Patienten (3,5%) mit Kryptozoospermie und nicht-obstruktiver Azoospermie nachgewiesen (Tewes et al., 2014). Bei einem Patient mit Ovotestis wurde eine partielle Deletion von DMRT1 identifiziert (Ledig et al., 2012).

Auf der Suche nach Genen, die bei der Gonadendifferenzierung involviert sind, haben wir bei der Maus Bcar3 identifiziert. Es ist in Sertoli-Zellen und Gameten exprimiert (Pennekamp et al, 2011).
In letzter Zeit haben wir uns besonders mit SOX9 beschäftigt, das für die Testis-Differenzierung und die Skeletentwicklung bedeutsam ist. Bei einer Patientin mit akampomeler kampomeler Dysplasie haben wir eine Translokation mit Deletion im Bereich von SOX9 identifiziert (Jakubiczka et al, 2010). Bei der Maus reguliert Sry den testis-specific enhancer von Sox9 (TESCO). In Kooperation mit G. Scherer (Freiburg) konnten wir allerdings keine Mutation von TESCO in Patientinen mit XY-Gonadendysgenesie nachweisen (Georg et al, 2010). In einer weiterführenden Studie konnten wir allerdings zeigen, dass 46,XY-GD und 46,XX-DSD durch Deletionen in unterschiedlichen Regionen 5‘ von SOX9 bedingt sein können (Kim et al., 2015).

Derzeit kann die Mehrzahl der Fälle von XY-Gonadendysgenesie ätiologisch nicht geklärt werden. Ziel unserer derzeitigen Forschungstätigkeit ist die Identifizierung weiterer Gene der Hodenentwicklung, wobei Array-CGH-Analyse und Next Generation Sequencing (NGS) einschließlich Gen-Panel-Analyse und Exom-Sequenzierung zur Anwendung kommen (Bashamboo et al, 2010).

Ausgewählte Publikationen

Bashamboo A, Ledig S, Wieacker P, Achermann JC, McElreavey K: New technologies for the identification of novel genetic markers of sex development (DSD). SexDev 4, 213-224 (2010)

Georg I, Bagheri-Fam S, Knower KC, Wieacker P, Scherer G, Harley VR:  Mutations of the SRY-responsive enhancer of SOX9 are uncommon in XY gonadal dysgenesis. Sex Develop 4:321-325, 2010Jakubiczka S, Schröder C, Ullmann R, Volleth M, Ledig S, Gilberg E, Kroisel P, Wieacker P: Translocation and deletion around SOX9 in a patient with acampomelic campomelic dysplasia and sex reversal. Sex Develop, Epub 2010

Kim GJ, Sock E, Buchberger A, Just W, Denzer F, Hoepffner W, German J, Cole T, Mann J, Seguin JH, Zipf W, Costigan C, Schmiady H, Rostásy M, Kramer M, Kaltenbach S, Rösler B, Georg I, Troppmann E, Teichmann A-Ch, Salfelder A, Widholz SA, Wieacker P, Hiort O, Camerino G, Radi O, Wegner M, Arnold HH, Scherer G: Copy number variation of two separate regulatory regions upstream of SOX9 cuases isolated 46,XY of 46,XX disorder of sex development. Journal of Medical Genetics; 52:240-247 (2015)

Köhler B, Lin L, Ferraz-de-Souza B, Wieacker P, Heidemann P, Schröder V, Biebermann H, Schnabel D, Grüters A, Achermann JC: Five novel mutations in steroidogenic factor 1 (SF1, NR5A1) in 46,XY patients with severe underandrogenization but without adrenal insufficiency. Human Mutation, 29:59-64, 2008

Köhler B, Biebermann H, Friedsam V, Gellermann J, Maier R, Korth-Schütz S, Pohl M, Wieacker P, Hiort O, Grüters, A: Analysis of the Wilms’ tumor suppressor gene (WT1) in a large cohort with different phenotypes of 46; XY disorders of sex development (DSD): genotype-phenotype correlations and consequences for clinical management. Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism; 96(7):E1131-6 (2011)

Ledig S, Röpke A, Wieacker P: Copy number variants in premature ovarian failure and ovarian dysgenesis. Sex Develop, Epub 2010Ledig S, Hiort O, Wünsch L, Wieacker P: Partial deletion of DMRT1 causes 46;XY ovotesticular disorder of sexual development. European Journal of Endocrinology; 167:119-124 (2012)

Pennekamp P, Feldner S, Seesing FJ, Psathaki OE, Schöler HR, Wieacker P, Dworniczak B: Bcar3 Is Expressed in Sertoli Cells and Germ Cells oft he Developing Testis in Mice.Sexual Development; 5:197-204 (2011)

Röpke A, Tewes AC, Gromoll J, Kliesch S, Wieacker P, Tüttelmann F. Comprehensive sequence analysis of the NR5A1 gene encoding steroidogenic factor 1 in a large group of infertile males. Eur J Hum Genet 21, 1012-1015 (2013)

Tewes A-CH, Ledig S, Tüttelmann F, Kliesch S, Wieacker P: DMRT1 mutations are rarely associated with male infertility.  Fertility and Sterility, 102:816-820 (2014)
 
Wieacker P: Genetische Aspekte bei Störungen der Fertilität. Bundesgesundheitsblatt; 56:1642-1652 (2013)
 
 
 
 
 
 
 

Verantwortliche

Univ.-Prof. Dr. med. Peter Wieacker
T 0251 83-55401
F 0251 83-55393

Dr. rer. nat. Susanne Ledig
T 0251 83-55430

Mitarbeiterin